Zu viele Worte (Dark Fantasy-Kurzgeschichte)

»Die Zeit und die Verträge richten die Welt. Und niemand sollte so tun, als würde die Zeit für ihn stillstehen«, sagte Klintmeier.
Fliedersanft verzog den Unterkiefer, rastete ihn seitlich ein und kaute mit seinen viel zu abgenutzten Idunenholz-Backenzähnen auf einem viel zu ledrigen Endstück Brot herum. Sein Freund neigte dazu, unbestimmte Gedanken mit einer Bestimmtheit auszusprechen, als säßen ihm tadelnde Gelehrte im Nacken. Solche von der Sorte, die ganz sicher gehen wollten, dass ihre unbedeutenden Lehren durch Wiederholung an Bedeutung zunahmen. Ein ganz schlimmes Volk, fragte man Fliedersanft, aber das tat natürlich niemand.
»Die holt uns nämlich alle ein, und dann wird abgerechnet mit Lug und Trug und Verweigerung«, fuhr Klintmeier in schwelgerischem Ton fort, den Fliedersanft höchstens angeschlagen hätte, wären sie auf eine Gruppe williger Freudenstuten gestoßen. Doch das Haus (und die Betten) der willigen Freudenstuten hatten sie samt Hazzad-Brey hinter sich gelassen. Dort, in zwielichtigen Schenken und amourösen Etablissements blühte die Verruchtheit und der Tanz des Zwielichts, seit Hazzad-Brey mit dem letzten Großvertrag dem Einfluss Jakateshs entkommen war. Irgendwie so hatte Klintmeier das ausgedrückt. Für Fliedersanft bedeutete es einfach nur, mit genügend Silberrand in der Tasche und Manneskraft in der Hose ordentlich Spaß haben zu können. Nicht ganz so sehr wie in Uthmensfreud, aber da musste man ehrlich zu sich sein, dort kläffte der Köter auf fünf Beinen, wie man zu sagen pflegte.
»Hörst du sie, diese Lumpen, dieses Gesindel, dieses trächtige Vieh, schwanger mit seiner Vorstellung von Gleichheit, die geblähten Wangen von Ungerechtigkeit prustend? Undankbarer Abschaum. Ausbeuter. Kaum die Klinge wert, um sie bluten zu lassen. Diebe, Diebe samt und sonders.« Klintmeier schnaubte angewidert.
Ja, kaum deutlich vernahm Fliedersanft das Gemurmel und Getüstere. Bei den Taanen, jeder hatte stets so verdammt viel über alles und nichts zu sagen, fand er, und das störte ihn. Egal, wie sauber gestutzt er beides heutzutage trug: Bei ihm konnte man vor lauter Bart und Schweigsamkeit denken, er besäße gar keinen Mund, und er hielt sich selbst für einen Mann, der sich mit wenigen Worten am besten zurechtfand. Und dennoch meist bekam, was er sich in den Kopf gesetzt hatte, unbedingt haben zu müssen. War das besonders oft mehr, als ein gekühlter deralischer Schnaps und eine feuchte Lustgrotte? Nö, nicht grade. Aber man musste seine Ansprüche ja auch nicht unnötig hoch ansetzen.
»Hör auf zu träumen«, wurde er von Klintmeier aus seinen Gedanken gerissen, und vielleicht hatte Fliedersanft das tatsächlich getan, geträumt. Wachsein außerhalb des Rausches konnte eine Qual sein und das Träumen eine Zuflucht, doch das behielt er für sich. Es kam ihm zu sehr so vor, als hätte es in Klintmeiers Schema gepasst, sowas jetzt laut auszusprechen. Der kam stattdessen zur Sache: »Messer raus und dann knöpfen wir uns das Pack vor.«
Fliedersanft stimme mehr oder minder zu, indem er den Klumpen Brot geräuschvoll in seiner Speiseröhre versenkte. Und dann folgte er Klintmeier, der breite Flügeltüren aufschob, weiten Schrittes ein umzäuntes Podest mit zwei Schreibtischen betrat und sein Messer gebieterisch über dem Kopf schwenkte, um die Aufmerksamkeit einer tuschelnden, schnatternden oder sich lautstark empörenden Menschenmenge zu erlangen. »Meine Damen, meine Herren, und was sich sonst noch unter den Augen des Hauses Charlisent & Sentcharlise versammelt haben mag, bewahren Sie Ruhe und bilden Sie geordnete Reihen, unseretwegen alphabetisch geordnet, sollte es Ihnen an Sortierung mangeln. Halten Sie«, er wedelte mit dem Messer, »Ihre ver-schlos-se-nen sekundären Dividendenrückführungs- und Finanzierungspapiere bereit, so dass wir diese gemeinsam zu Tische öffnen und Ihnen von Angesicht zu Angesicht versichern können, dass die Erhebungsgründe und in Konsequenz Ihre zu leistenden Zinsnachzahlungen in Höhe und Frist angemessen festgesetzt und alternativlos zu entrichten sind.«
So verflucht viele Worte. Fliedersanft seufzte und setzte sich, während ein paar Sicherheitsleute zwei Pforten zu den Podesten öffneten und die Meute mit ihren Briefen raschelte. Viele jaulten auf, denn sie hatten die falschen Umschläge geöffnet, wodurch das Recht auf eine persönliche Beratung als verwirkt galt. Was die Bank Charlisent & Sentcharlise selbstverständlich beabsichtigte, denn wer achtete schon auf die genaue Auszeichnung von Primär- und Sekundärbescheiden und deren Unterscheidung in den Verträgen? Früher, dachte Fliedersanft und geriet erneut ins Träumen, früher da hatten er und Klintmeier ihre Messer an Kehlen platziert und »Geld her« oder sowas gebrüllt. Im Grunde taten sie das noch immer. Bloß unehrlicher. Und warum mit so entsetzlich viel mehr Worten?

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„Hero, U Shy?“, den Kurzgeschichten-Podcast findet ihr auf:

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