Todbringende Winde (Dark Fantasy-Kurzgeschichte)

Die Sonnenringe schienen blaustichig hinter den unruhigen Nebelverwerfungen, ihr Licht fahl und faulig. Kieswirbel an den Stränden scheuchten Krabben und andere Schalentiere weg von einer fauchenden Gischt, die bösartig, aufgebracht wirkte. Über der Basaltsäulenformation im Nordwesten hing ein säuerlicher Gestank. Die Zeichen waren mehr als deutlich. Immer wieder waren sie ihnen eingebläut worden. Beim fermentierten Lachsleib, das konnte doch alles nicht wahr sein! »Der Wind wird umschwingen, kannst du das nicht sehen?«
»Ich kann es riechen, die Winde, die aus deinem Arsch kriechen«, erwiderte Floki  glucksend und Eypor gab es auf. Gab es auf, seinem jüngeren Bruder begreiflich machen zu wollen, dass etwas in der Luft lag. Floki sah die Schatten nicht an der Wand tanzen. Das hatte er noch nie. Er nahm es nicht wahr, das Unheil, das sie verkündeten. Stattdessen lauschte er dem Rauschen des Deralis, ließ seinen Willen auswaschen und fortspülen. Versank ganz in den Strömungen, die die Tränen umtosten, jene tropfenförmige Gruppe von Inseln unterhalb der Sichelspitze. Ihre Heimat. Einst hatte man sie das Blut der Sichel genannt. Doch die langen, auszehrenden Eroberungskriege, die der Kontinent gegen die Blüte, die Zinnen und schließlich sogar gegen das Netz geführt hatte, waren seit Jahrtausenden beendet. Im Sud der Verklärung eingelegte Echos einer unvorstellbaren Vergangenheit.
Heute herrschten die Verträge. Die Hauptstadt Aeozoss und das mächtige Haus Borlantis an der Spitze eines Schwarms von Bürokraten, Statuswarten und Buchhaltern. Das Blut, dass die Sichel vergossen hatte, war zu Tinte geworden. Oder eben zu Tränen.
Eypor wusste, dass diese Geschichten von Kummer und Chaos durchtränkt waren, doch es hatte ihm stets gefallen, wie der alte Reynir sie erzählte. Voller Inbrunst und Dramatik. So, wie man die Vergangenheit schmücken musste, wenn die Gegenwart karg und hoffnungslos war.
Eypors wahre Sehnsucht lag jenseits der steinigen schwarzen Küsten der Tränen. Dort, auf dem Festland, das sich vom Horizont abhob und wirkte, als könne man trotz gesetzter Segel niemals bis dahin gelangen, als würde man in ein Gemälde zu greifen versuchen. Der Gestank des Trans, glibberiger Laich, die Begegnungen mit den Ira’ghanen, die Medizin aus ihren Toten Gärten brachten – Dinge, von denen Eypor seit vielen Jahren spürte, dass er ihnen entkommen musste, bevor er sich vollends an sie gewöhnt hatte. Nur ließ man ihn nicht gehen. Sein Vater war überzogen von schwarzen Adern seiner Izurndýr-Vergiftung, wie die Taanen-Heiler vom deralischen Festland das langsame Sterben nannten, quälte jedoch ungeahnte Kräfte aus seinem ausgemergelten Körper hervor, nur um ihm das Bleiben zu befehlen. Und Floki? Der war zu unbedarft, einfach zu dumm, um ihn alleine zu lassen.
Fjóla hatte ihm bei jeder Gelegenheit gesagt, er solle einfach gehen, er sei geschickt und unscheinbar und seine Nachsicht wäre falsch, er sei niemandem irgendwas schuldig, und wenn er es bis zur Sichel geschafft hätte, solle er sie holen kommen – dann hatte das Nioa‘dur-Fieber sie befallen, der rote Wahn, und sie hatte sich mit den Fingernägeln das Fleisch vom Unterkiefer gekratzt und ihn sich vollends aus dem Gelenk gerissen, ehe man sie erlösen konnte.
Erneut waren daraufhin die Ira’ghane in ihren Mänteln aus Ölzeug und mit einem Grinsen unter den tiefsitzenden Krempen ihrer Hüte aufgetaucht; einmal mehr viel zu spät, um mit ihren Tränken und Kräutern zu helfen; früh genug, um Fjólas Leiche zu bergen und mit sich zu nehmen. Eypor mochte sich nicht vorstellen, was die Nachfahren Jira’sur Shadagans mit den Verstorbenen wollten. Studien, Experimente, grausame Wagnisse, um dem Tod seine Geheimnisse zu entlocken; fortzuführen, was ihr Meister einst begonnen und damit den Totenstrom entfesselt hatte – man machte sich besser keine Gedanken um diese Dinge, so man bei Verstande bleiben wollte.
Doch wie, wie sollte Eypor sich mit dem Geringsten zufriedengeben, wenn ihm die Ferne mit Fjólas vergehender Stimme und in jeder Stunde drängender zurief, er solle ihrer Verlockung folgen? Warum befahl ihm die Auflösung der Handelsabkommen zwischen Sichel und Tränen, schamvoll und bangenden Herzens auf sein Ende zu warten? Eines Tages schweigend oder im Wahn, doch stets leidend fortzusiechen, seit der Ostwest-Wind des Kraters, von dort, wo Shadagan die Ordnung Hierroshais zerstört hatte, ihnen Krankheit auf Krankheit auf Krankheit an die Küsten wehte …
Er setzte seine Atmung für einige Züge aus, so wie er es tat, wenn er sich in die Fluten des Deralis sinken ließ, um in den unergründlichen Dunkelheiten der tiefen See die Ungerechtigkeit der Oberfläche zu vergessen. Welches Vergehen war es, leben zu wollen? Wie konnte es ein Verbrechen sein, Hilfe zu brauchen? Wer setzte Verträge auf, die dem Tod gestatteten, grausam zu sein?
»Ich gehe Heim«, sagte Floki und erhob sich von dem scharfkantigen Felsen, an dem er sich prompt weitere Schnitte an der Hand zufügte. Seine Haut war wie Papier. Verlegen kichernd und sich den Hinterkopf kratzend hielt er Eypor die Wunden am ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger hin. Blut rann in einer feinen Linie von den Kuppen über die Glieder zur Handinnenfläche. »Mutter wird das verbin … oh nein, wird sie nicht.« Rechtzeitig war ihm eingefallen, was mit ihr geschehen war, und dennoch hörte er nicht auf mit dem seligen Grinsen, als umwickelte sie wenigstens weiterhin sein Gemüt mit Geduld und Sorgfalt.
Eypor nickte ihm zu, sagte aber nichts. Kein bis später, kein auf Wiedersehen. Er sah seinem Bruder nach, doch schon bald hob er den Blick und dort oben türmten sie sich auf, die grauen Wolkenungetüme, vorwärts gepeitscht von todbringenden Winden. Nein. Ihn würden sie nicht holen. Sein Herz begann zu wummern, als wolle es sich vor Aufregung aus seiner Brust hämmern und vorausgehen. Er wandte seine weit geöffneten Augen zurück aufs Meer. Sah klar. Wie weit konnte es schon sein? Ein paar Meilen? Er war ein guter Schwimmer. Geschickt und unscheinbar, sobald er die Sichel erreichen und an Land gehen würde. Keiner würde bemerken, dass er einer der Aussätzigen von den Tränen war. Einer, der nicht leben sollte, dem niemand helfen kam.
Ohne sich noch einmal umzudrehen sprang er auf, hetzte über den Strand und warf sich in den Deralis, paddelte, schwamm, kämpfte, wurde verschluckt, tauchte wieder auf, überwand die ersten Wellen, pflügte mit schnellen Zügen und all seinen Kräften voran. Die Winde würden ihn nie mehr einholen. Eypor war neun Jahre alt. Und er hatte noch alle Zeit, das Ufer zu erreichen …

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„Hero, U Shy?“, den Kurzgeschichten-Podcast findet ihr auf:

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