Lektionen in Fleiß (Dark Fantasy-Kurzgeschichte)

Das Gehen war Ephitraches schon immer schwergefallen. Nicht wie es Faulenzern und Taugenichtsen schwerfiel, die gekonnt hätten, aber nicht wollten. Es fiel ihm schwer, weil ihm die Taane – oder wem dieser widernatürliche Scherz auch Freude bereitet haben mochte – viel zu dürre, viel zu ungleiche und viel zu tapsige Beinchen mitgegeben hatten, um den darauf aufgeflatschen, rundlich von Seite zu Seite schwappenden Körper zu tragen. Zudem brachen diese Beine und überhaupt seine Knochen seit der Kindheit auch noch ständig. Kastanienmann hatte es nie aufgehört, hinter seinem Rücken – und oft genug auch in sein Gesicht – zu heißen. Weil er wohl tatsächlich aussah wie eines dieser auf winzige Ästchen gespießten, plankonvexen Nussfruchtgebilde. Darum hatte Ephitraches nie, selbst als er die Macht dazu erlangt hatte, jemandem verboten, ihm diesen Beinamen zu geben, wie beleidigend er auch gemeint sein mochte.
Dennoch, die Umstände des heutigen Tages zwangen Ephitraches, zu gehen, auf und ab, zwölf bis fünfzehn wackelige Schritte nach vorne, mühsam wenden, ohne zu stürzen, zwölf bis fünfzehn Schritte zurück. Die vier Männer, die auf Knien vor ihm hockten, die Hände hinter dem Rücken verbunden, waren sich ihrem Luxus und der Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Beine hätten benutzen können, so sie denn nur gewollt hätten, nicht einmal bewusst. Ihre Blicke huschten fort von seiner kaum viereinhalb Fuß hohen Gestalt, doch dass Ephitraches ihnen das Recht gewährte, ihn nicht anzusehen, bedeutete lediglich, dass er umso mehr verlange, dass sie ihm zuhörten. »Man hätte Ihnen vielleicht sagen müssen, dass ich mehr erwarte«, schnarrte er. »Kräftige Burschen wie ihr, die sind nicht selten. Fleiß hingegen, der ist selten. Ein kostbares Gut, das es zu bewahren gilt, hat man es erst für sich entdeckt. Ich kann nicht sagen, ob ihr nie fleißig wart, oder ob ihr nicht gut genug Acht gegeben hab auf dieses persönlichkeitsformende Geschenk. Schon gar nicht ist es an mir, die Uneingeweihten in die Freuden des Fleißes einzuführen. Nein, nein.« Mit einem Ächzen und wedelnden Ärmchen wuchtete er sich um die eigene Achse. »Nein, nein. An mir ist es, dass opulente Gegenstück des Fleißes zu bestrafen. Die Faulheit.«
»Mein Herr«, stöhnte der von links aus Dritte in der Reihe. Blut troff ihm unaufhörlich aus der gebrochenen Nase. »Wir wollten ja gar nich faul sein. Wir konnten nur nich mehr. Es is einfach zu viel.« Die anderen stimmten ihm murrend zu.
»Das mag sein«, erwiderte Ephitraches. »Doch der Fleiß übernimmt dort, wo dem Fleische seine Grenzen aufgezeigt werden. Die Faulheit macht Halt an eben jener Grenze. Und es ist an Ihnen, nun möglichst schnell zu begreifen, dass Ausreden keine angemessene Form der Buße darstellen.«
»Warum«, begehrte plötzlich der Mann mit der verschobenen Zahnreihe außen rechts auf, »warum, Kastanienmann, drückst du dich eigentlich so taanverflucht langwierig aus, wenn es dir so elendig schwerfällt, diese Verarschung von einem Körper aufrecht und in Bewegung zu halten?«
Ephitraches blieb vor ihm stehen. Japste. Der Atem rasselte ihm durch Brust und Lungen, als hätte jemand an einem Bohnensäckchen gerüttelt, um das Glucksen eines Kleinstbalgs zu provozieren. Die stockdürren Unterschenkel schlotterten ihm. Die anderen Männer sahen beschämt zur Seite, doch der, der ihn beschimpft hatte, gaffte ihn nun unverblümt und mit hämischem Grinsen an. Obwohl er kniete, reichte er Ephitraches bis zum Kinn. »Kranke Gestalt«, spukte er aus. »Was hält dich aufrecht?«
Der Kastanienmann hob die Hände zwischen ihre Gesichter. Seine ungewöhnlich gleichlangen, knorpeligen Finger mündeten in geschliffene schwarze Krallen. Und mit denen warf er sich und sein ganzes Gewicht auf den Mann. Der Aufprall schleuderte den Delinquenten hart auf den Rücken. Seine nach hinten verdrehten Schultern gaben ein fieses Knacken von sich. Zappelnd und quickend stach Ephitraches mit seinen Klauen auf ihn ein, zerfetzte die Wangen, die Kiefer und schließlich den Hals des Mannes. Der gab mittlerweile – nach anfänglichen Gurgellauten und unverständlichem Gefratze – vor Verblüffung und zuckendem Todeskampf keinen Ton mehr von sich. Vorbeigedrängt an ihren Lidern starrten die aufquellenden Augen längst ins Nichts, als Ephitraches‘ Stirn ihm gegen die Brust sackte, er das warme Blut an seiner aufgeheizten Haut als beinah kühlendes Nass spürte. Er vernahm das hastige Keuchen der drei anderen Männer, das aus ihren Kehlen hallte wie zum Ziele einer Treibjagd ausgerufen.
»Gerrardodot, Gerrardodot«, schnatterte Ephitraches und ein hochaufgeschossener Mann in steifgebügelter Uniform eilte heran. Er hob den Kastanienmann an wie ein wabbelndes Euter mit schlackernden Gliedmaßen, die ihn anwiesen, Ephitraches vor den verbliebenen Faulenzern aufzupflanzen. Mit Blutflecken auf der grau-weiß-melierten Uniform nahm Gerrardodot einen gebührenden Abstand ein, gleichwohl nicht zu weit hinter dem wankenden Ephitraches.
»Fleiß ist es«, setzte er nach einer Weile an, »um die Frage Ihres unglücklich verschiedenen Kameraden zu beantworten. Fleiß ist es, der mich aufrecht hält, und dieser Fleiß hat Ihnen soeben eine Lektion erteilt. Wir sollten alle bereit sein, über das hinauszugehen, was man uns zutraut und was uns selbst zu viel erscheint. Der Körper und der Wille, das sind Variablen, die sich biegen und zerstören lassen.« Mit krummen, bluttriefenden Griffeln deutete er auf den Toten. Dann auf seine eigene brodelnde Brust. »Der Fleiß ist etwas Konstantes. Sonst würde eine Gestalt wie die meine vor Männern wie Ihnen knien.« Sein Buckel krümmte sich aufwärts, bis er ihm über die Haarkrone reichte. »Ich würde Getränke für Sie tragen und, Ihre Waffen reinigen und schärfen und, so Ihnen danach wäre, den Dreck mit der Zunge von Ihren Stiefeln lecken. Doch dies hier ist keine Armee, kein Söldnertrupp und nicht mal eine Baugruppe, in der solche oberflächlichen Hierarchien der vermeintlichen Macht des Stärkeren gelten mögen. Dies ist eine Statuskanzlei. Keine Verträge von Hierroshai, die nicht über unsere Tische laufen. Was sich hier durchsetzt, ist Fleiß. Fleiß, der Briefe formuliert, Briefe faltet, Briefe versiegelt. Vertragswerke, Gutachten, Validationen, Rechnungen, Mahnungen, Vollzugsbescheide, Vollstreckungsankündigungen. Je mehr davon, desto bezahlter macht sich unser Fleiß. Gerrardodot, würden Sie bitte die Fesseln dieser Männer entfernen.«
Der Angesprochene, dessen Kleidung ihn als Gildenjustiziar und Statuswart fünften Ranges auswies, gehorchte ohne ein Wimpernzucken. Schroff zerrte er die Männer auf die Füße, nachdem er ihre Hände befreit hatte. Einer der Männer rieb sich die Handgelenke und offenbar glitzerte eine Träne in seinem linken Augenwinkel. Die übrigen beiden standen stramm wie an einer Schnur emporgezogen.
»Neue Kleidung für Sie und diese Studenten«, gluckerte Ephitraches, »und veranlassen Sie den Abtransport des Verblichenen und bestellen Sie eine Reinigungskraft, Gerrardodot. Asmaderischer Marmor und idunensüßes Parkett vertragen sich nicht gut mit Blutlachen und Hautfetzen. Nicht vergessen, ihn aus den Bestandslisten und Schichtplänen auszutragen und den Nachlass zu regeln. Reine Fleißarbeit, dieser Papierkram, nicht wahr?«
»So ist es«, antwortete Gerrardodot tonlos und führte die Nachwuchsrechtskundler aus Ephitraches‘ Büro. Als sie die Tür öffneten und hinaustraten drangen kurz die Geräusche dutzender über Papier kratzender Federn, niedergedrückter Stempel, der leise zischelnden Dampfwachsschmelze und nicht zuletzt der Wohlklang konzentrierten Fleißes zu ihm herein. Dessen Fortbestand er einmal mehr gesichert hatte. Es war eine Unbequemlichkeit, dachte Ephitraches, als er sich erschöpft in seinen Sessel hinter einem idiotisch großen Schreibtisch bugsierte, dieses Schauspiel mit jedem Jahrgang von Neuem aufführen zu müssen. Wenigstens hatte es sich heute nicht allzu lange gezogen, bis sich ihm der Vorwand anbot, zum Mittel der verstärkten Gewalt zu greifen. Den ums Leben gekommen ausgeschlossen würde wenigstens einer der Männer – die fast noch Jungs waren – nach dieser Vorstellung spätestens übermorgen seine Anstellung bei der Kanzlei Hentbrandt, Bakalinth & Wandrush, vermutlich sogar sein gesamtes Studium kündigen. Doch wer blieb, und das ließ Ephitraches zufrieden lächeln, obwohl ihm Schmerzproteste wie aufbegehrende Völker durch die Glieder zuckten, wer blieb hatte seine Lektion in Fleiß gelernt.

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„Hero, U Shy?“, den Kurzgeschichten-Podcast findet ihr auf:

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