Tod und Irrsinn (Dark Fantasy-Kurzgeschichte)

Sie hatte das Dorf gekannt. Den ziegelroten Brunnen in der Mitte des Marktplatzes, der ihr in seiner wuchtigen viereckigen Form seltsam klobig und unpraktisch vorgekommen war. Die reetgedeckten Häuschen, um die sich ausgetretene Gassen schlängelten wie die Linien auf einem Handteller. Vorgärten und Wiesen, auf denen Kirschsträucher und Zunderflaum ihr Farbspiel aufführten. Alles bevölkert von skeptisch dreinschauenden, mental leicht rückwärtsgewandten, aber gutherzigen Leutchen, wie man sie oft in diesen abgelegenen Örtchen jenseits der großen Handelsrouten antraf.
Nun zog Zuula-May der Gestank ihrer verbrannten Leichen in die Nase. Das Dorf – Rebengrund hatte es geheißen, auch wenn das auf dem rußgeschwärzten Schild längst nicht mehr zu erkennen war – ragte wie Schwarzgebranntes in einer Pfanne aus der kargen Landschaft. Viel, gestand sie sich, empfand Zuula-May nicht mehr bei einem solchen Anblick. Alles wurde irgendwann zur Gewohnheit. Sie strich sich mit dem Zeigefinger über die Nasenflügel, um die beißenden Gerüche von verbrutzeltem Fleisch mit einem Hauch von Minzpaste zu übertünchen. Den Bogen über ihrer Schulter zurecht rückend rief sie: »Synne!«
Die junge Fährtenleserin sah auf wie ein gehetztes Wildtier. Verschorfte Wunden blitzten zwischen ihrem raspelkurzen Haar hervor und sie war schon wieder dabei, sich an einer neuen Stelle blutig zu kratzen. Sie hockte zwischen zwei Büscheln getrockneten Bergfußkrauts, die Fingernägel der anderen Hand im aufgewühlten Boden vergraben. »Kaz’drastamborgath«, murmelte sie und riss die Augen auf, als wolle sie mit dem Grün darin die durstige Gegend tränken.
»So weit im Osten?«, raunte Zuula-May. »Kann ich mir nicht vorstellen. Außerdem hantieren die Holzhäutigen nicht gerne mit Feuer.«
Erdklumpen stoben in die Luft, als Synne die Hand nach oben riss und mit einem spitz zulaufenden, dreckstarrenden Fingernagel auf Zuula-Mays Stirn deutete. »Du weißt nichts über die Kaz‘dra! Nur mein kleines Ziepziep versteht sie!« Ihre blausilbrige Armschiene aus Gant-Epik funkelte angriffslustig. Dann fuhr ein Zucken durch ihren hageren Körper, mit einem schrillen Schrei fiel sie auf den Hintern und nach einigen panischen Atemzügen sah sie beschämt zu Zuula-May auf, die ihr eine Hand reichte. »Tut mir Leid«, murmelte Synne und ließ sich auf die Beine helfen. »Manchmal kann … manchmal kann ich es nicht beherrschen«, fügte sie kleinlaut an.
»Ist schon in Ordnung«, sagte Zulla-May, klopfte ihr auf den gebeugten Rücken, linkisch wie ein geprügelter Köter, dachte sie, aber diese junge Verrückte, in der ein für Zuula-May völlig unbegreiflicher Wahnsinn tobte, stellte ihre einzige taanverfluchte Hoffnung dar. Sie besaß … Fähigkeiten. Solange sie klaren Verstandes blieb.
Zuula-May fühlte Erschöpfung durch ihre Gliedmaßen schwappen. Tiefe, vereinnahmende Erschöpfung, wie sie einen nur ergriff, wenn die Aussicht auf ein Ziel einfach nicht näher rücken wollte. Fünf aufgeriebene, niedergebrannte Dörfer entlang der Nordost-Schrunde und immer kamen sie zu spät, immer blieb ihnen nichts, als auf unerbittlichem Land um die nachsichtige Gabe einer Spur zu bitten.
»Wir machen eine Pause«, entschied Zuula-May dennoch, obwohl sie glaubte, dass die Stimmen in ihr, die nach Gerechtigkeit verlangten, in diesem Moment nicht leiser schrien als das, was Synne Tag und Nacht in ihrem Kopf hören musste.
»Gut«, sagte Synne. Überzeugt schien sie nicht, aber etwas in ihr schien ununterbrochen um Überzeugung zu ringen, so viel hatte Zuula-May über sie gelernt. »Müdes, dummes, schwaches Ziepziep«, fauchte sie sich selbst an und kratzte sich wie im Rausch am Hinterkopf.
Doch es beruhigte sich und Zuula-May wandte sich ab, ab von ihr, ab von den toten schwarzen Ruinen Rebengrunds – und wohin stattdessen? Wohin wandte man sich, wenn jede Richtung einer Welt, die sie einmal für so endlos groß gehalten hatte – wenn jede Richtung nur noch Tod und Irrsinn verhieß?
Dass Synne in ihrem Rücken ein Messer zog und sich zunächst damit die Erde unter den Fingernägeln wegpulte, kam Zuula-May erst besonders vor, als sie die Klinge wie einen scharfen Blitz zwischen ihren Schulterblättern spürte. Fast sofort spukte sie Blut und überrascht stellte Zuula-May fest, dass sie kein bisschen überrascht war.
»Das Ziepziep macht keine Pause, wenn Kaz’dra in der Nähe sind«, heulte Synne, die andere Synne, nah bei ihrem Ohr, so nah, dass Zuula-May das anschließende Erbeben und Zittern ihrer Unterlippe spüren konnte, bevor Synne, die andere andere Synne, entsetzt von ihr fortwich.
Wandte man sich zu oft von Tod und Irrsinn ab bemerkte man wohl nicht, wie eng sie zusammengehörten. Und wenn sie beide längst ganz nah bei einem waren. Mit diesem Gedanken brach Zuula-May zusammen.

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„Hero, U Shy?“, den Kurzgeschichten-Podcast findet ihr auf:

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