Die Zeit verrinnt (Dark Fantasy-Kurzgeschichte)

»Du siehst dieses Stundenglas«, stellte Shegullen nüchtern fest. »Sobald der Sand bis aufs letzte Korn vom einen Kolben in den anderen geronnen ist nehme ich mir diese Axt dort drüben, und ob ich deinen Schädel anschließend spalte oder abschlage, das habe ich noch nicht entschieden.«
»Und wovon hängt es ab, ob du lieber spaltest oder abschlägst?«
»Das ist die Frage, die du in diesem Moment stellst? Nicht eher, wie du beides vermeiden kannst?«
Der Mann unter der Kapuze drückte seinen Rücken geräuschvoll gegen den Stuhl, hob in aller Ruhe sein Glas an die schmalen Lippen, die den Unterkiefer und die verdunkelte obere Hälfte seines Kopfes wie eine Gebirgslinie teilten. »Daran«, erwiderte der Mann, nachdem er einen langen Schluck des türkis-silbrigen Dogh’hanhaeris-Weines genommen hatte, »dürften Forderungen geknüpft sein. Und die mögen dir auf deine Art gut und gerechtfertigt vorkommen. Ich hingegen fühle mich von dieser Vorstellung ziemlich belästigt.«
»Belästigter als von der Möglichkeit, mit einer Axt im Schädel zu enden?« Ein Viertel des Sandes hatte sich im unteren Kolben gesammelt.
»Das ist heute weder wahrscheinlicher, noch unvorstellbarer als an jedem anderen Tag.«
Shegullen lachte verunsichert auf. »Hör mal. Lässt mich ein bisschen dumm dastehen, dass du hier so furchtlos tust.«
»Vor deinen Jungs dahinten?« Die Spitze der Kapuze nickte zur Theke rüber. »So wie die mich ansehen fanden sie deinen Einfall von Anfang an nicht besonders clever.«
»Da liegen vier Tote vor der Tür.« Shegullen spürte, wie sein Augenlid zuckte, und er blinzelte ein paar Mal hektisch. »Und drei weitere hier drinnen. Und inmitten dieses Gemetzels hockst du, Kapuzenbursche. Was hättest du an meiner, an unserer Stelle gemacht?« Der untere Berg Sandkörner war inzwischen etwas größer als der obere …
»Ich hätte artig bis Sieben gezählt und wäre meiner Wege gegangen. Weil was glaubst du wohl? Das ein Kerl, der sieben andere umgebracht hat, vor vier weiteren zurückschreckt, nur wegen ihrer Abzeichen am Ärmel?«
»Die sind dir aber immerhin aufgefallen, ja? Bei den verdammten Taanen Mann, dann sollte dir klar sein, dass wir dich nicht einfach so nach Hause spazieren lassen.«
»Klingt für mich, als würdest du darum betteln, dass ich mir dieser Klarheit bewusst bin«, meinte der Mann, griff erneut nach seinem Wein, und zu seinem eigenen, magenkrampfenden Unbehagen musste Shegullen ihm zustimmen. So viel Sand im unteren Kolben. So wenig nur noch im oberen …
»Hör zu, was auch immer hier passiert ist, ich denke, du hattest deine Gründe, aber …«
»Und diese Gründe gehen nur mich und die Toten was an. Nicht eure Abzeichen, nicht jene für die sie stehen. Nichtmal mehr eine Handvoll Körner, Hauptmann.« Beiläufig öffnete er seinen Mantel, eine schmale Spur breit bloß, so dass Shegullen die glänzenden Messerschneiden aufblitzen sah. »Und es ist nicht meine Zeit, die dort in deinem Stundenglas verrinnt.«
Sein Kehlspross drückte gegen den steifen Kragen der Uniform, als Shegullen schluckte. Der Mann stellte das Weinglas ab und sein Atem ging so flach, als interessierten ihn weder der Tod noch die Welt. Der Blick des Hauptmanns huschte zu seinem Trupp. Die Haltung der drei Soldaten, zusammengerechnet kaum so alt wie Shegullen, erinnerte ihn an Pferde, Augenblicke bevor sie durchgingen.
»Wir ziehen ab«, sagte Shegullen schwach und erhob sich in dem Moment, als das letzte Sandkorn verrann und alles ganz plötzlich ganz fürchterlich zu schnell vorüberging.

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„Hero, U Shy?“, den Kurzgeschichten-Podcast findet ihr auf:

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